Pilze gibt es reichlich dieses Jahr. Ich bücke mich außerdem nach den Scherben einer geblümten Vase, einem zerbrochenen Lampenschirm aus Glas, einem emaillierten Milchkannendeckel, einem Tennisnetz, einer Tomate, einem Knochen, einer versprengten Kastanie, einem Styroporbecher, etlichen Flaschen und dem verrosteten Rahmen eines, wie ich vermute, ehemals nützlichen Gegenstandes. Seine Beschreibung will ich mir ersparen, unnütz wären die Worte. Nur soviel: Er paßt zum Deckel.

Aus der Tiefe des Waldes dringt Musik; es sind ferne, einsame, stolze Dudelsackklänge.
Da brauche ich mich wenigstens nicht zu bücken!

29. September 2008

Der gelbe Umschlag

Mit Unschuldsmiene hocken die Zeitungsbündel auf dem Rücksitz. Noch haben sie nicht damit geprotzt, wie schwer sie sein können, vor allem dann, wenn man sie während der Fahrt nach vorne hievt. Es riecht nach frischer Druckfarbe. “Stuczynski”, rufen sie. “Stuczynski Wins Silver in Olympic Pole Vault!”
Der gelbe Umschlag ist jetzt wichtiger. Den händigt der Truckfahrer zum Schluß aus. In ihm stecken alle wichtigen Informationen zur heutigen Route.
Oh wundervolle, wundervolle Route, singt Jack, während er den Umschlag öffnet.
Ein Kunde spendiert 1 Dollar Trinkgeld.
Die Andersons sind umgezogen.
Die Taylors wechseln von 7x zu 2x, sie bekommen die Zeitung jetzt nur noch am Samstag und am Sonntag - und ungefragt an denjenigen Tagen, welche der C&D als Feiertag festlegt. Das kostet extra Gebühren; im Vertrag wird der Kunde nicht darauf hingewiesen, daß er die Zustellung von Sonderausgaben ablehnen kann.
Die Smiths - von Beruf Snowbirds - sind zurück und wollen 5x - also nur wochentags.

Der gelbe Umschlag weiß nicht alles.
Hat zum Beispiel die alte Lady in der Aalstraße endlich ihre Box geleert?
Wo sind heute nacht die Hirsche? Versammeln sie sich auf ihrer Lieblingsweide, bleiben sie unsichtbar, naschen sie wieder aus den Blumenkästen vor den Fenstern des Hauses Nr. 1788, lugen sie aus dem Straßengraben hervor, sprinten sie im allerletzten Moment quer über die Straße, oder hechten sie zurück in den sicheren Wald? Bleiben die Zeitungstürme dann auf dem Rücksitz stehen, oder fallen sie in sich zusammen wie ein Kartenspiel, das neu gemischt wird?
Sind die Cops unterwegs heute nacht?
Hört man die Zikaden singen?
Sind die Ahornbäume auf dem kleinen Friedhof bei French Hill schon für die Saftgewinnung angezapft?
Ist das verlassene Haus an der Porter Road versteigert worden?
Werden die Radlager durchhalten?
Wird es regnen, stürmen, schneien?
Hat der Bewohner des ‘Hauses der sieben Lichter’ endlich die achte Glühbirne erneuert?

Der gelbe Umschlag fliegt in den Fußraum. Wir werden sehen!

13. August 2008

Am Teich

“Ja mei, so a Idylle”, vermerkt eine des Weges kommende Radlerin zu ihrem Begleiter.
Ich vermute, meine Anwesenheit mit Skizzenblock hat sie zu solcher Schwelgerei verleitet; Sonnenuntergänge an im freien Gelände liegenden bayerischen Froschteichen gibt es schließlich jeden Tag.

Den Gedankengang zur Idylle eliminiere ich auf der Stelle. Auch wenn es nicht so aussieht, aber ich habe hier alle Hände voll zu tun. Schnellschnell!

Denn pünktlich wie die Sonne selbst sinken auch die Schatten, zum Glück mit einer Geschwindigkeit von nur etwa 1666 Stundenkilometern. Routiniert legen sie sich über das Wiesenstück; ihre dunklen Zungen lecken alles auf, was eben noch im Licht flimmerte und gleißte. Die Seerosenblätter ihrerseits lassen sich nicht lumpen. Launisch dümpeln sie gen Nordosten, wo unverdrossene kleine Winde die Oberfläche des Wassers kämmen, mal mit dem Strich, mal gegen ihn. Oder war das eine Forelle? Kaum schaue ich wieder hin, sieht alles anders aus. Trübe glotzt der Teich zurück. Er blubbert ein bißchen. Ein Frosch antwortet. Ringsherum zirpen die Grillen um die Wette. Die Erde wirbelt in die Nacht hinein, quirlige Planeten mischen den Himmel auf, Quanten hüpfen und springen, nichts ist wie es mal war.

Wer an einem Feldweg sitzt und zeichnet, ist vor Überraschungen nie sicher. Das gleiche gilt natürlich für alle anderen, die ihn benutzen.
Da tuckert etwa der Bauer Anton auf seiner Zugmaschine heran. Ich nicke zurück. Kurz darauf biegt der Nachbar Müller, ebenfalls auf dem Traktor, um die gleiche Kurve. Er schaltet in den Kriechgang, während er sich schier den Hals verrenkt. Ich halte die Zeichenmappe hoch. “Schaut ja scho guat aus”, ruft er, ohne anzuhalten, aus dem Geknatter heraus. Er grinst, schaltet wieder hoch und gibt Gas.
Einer aus dem Trupp der Sportsfreunde, die zielgerade in einen Sack-Feldweg geradelt waren, ruft mir beim Wenden frech zu: “Wir wollten nur mit aufs Bild kommen!”
Ein Hase bleibt auf dem Weg hocken. Bussarde kreisen über mir, und im Unkraut zu meinen Füßen finden die reinsten olympischen Spiele statt.
Für weitere Studien stelle ich mir Autobahnraststätten, U-Bahnhöfe, Fußgängertunnel, Einkaufspassagen und ähnlich zivilisierte Plätze vor. Die Idylle kann ich dann schon selbst mitbringen.

30. März 2008

Der Tabak-Kauer

Immer, wenn der Tabak-Kauer aus dem Auto steigt, wundere ich mich, wie lange er das noch machen wird. Ich bin da sicher nicht die einzige. Meistens ist er der erste oder zweite in der Schlange der Fahrer, die auf den Truck warten.

Es ist jede Nacht das gleiche.

Manchmal liegt schwerer Nebel über dem Platz. Manchmal bläst ein scharfer, frostiger Wind. Manchmal regnet es. Dann spiegelt sich das Licht der Straßenlaternen orangefarben in den Pfützen und auf dem nassen, schwarzen Teer, und die dunklen Konturen des vor uns stehenden Wagens zerfließen mit den Tropfen auf unserer Windschutzscheibe.
Die Fahrer sind das Wetter gewohnt. In kalten Nächten lassen sie die Motoren laufen. Die Lichter bleiben ausgeschaltet, bis der Truck um die Ecke biegt. Sonst ist niemand da. Es gibt nur die zwei breiten, ringsum von Garagentoren gesäumten Gassen. Hier wird die druckfrische Ausgabe des C&D an die Zeitungskuriere verteilt. Jeder hat eine andere Route zu fahren; manche davon führen weit hinaus, tief in die einsamen Ecken und Winkel von Steuben County, und dauern bis zum Morgengrauen.
Es kann passieren, daß ein Fahrer beim Warten einschläft und nicht aufwacht, wenn der Truck da ist. Dann ziehen diejenigen, die hinter ihm stehen, an ihm vorbei, und falls der letzte nicht an seine Scheibe geklopft hat, tut es der Truckfahrer. Es ist kurz nach Mitternacht; die meisten haben noch einen Hauptjob, den sie tagsüber ausüben. Ein zweiter Job wird bei der Einstellung dringend empfohlen. Die Bezahlung ist schlecht, kein Mensch kann wirklich davon leben.
Diejenigen, die noch später kommen, finden ihre gestapelten Bündel in der vom C&D angemieteten Garage. Dort steht auch der Container zur Entsorgung übriggebliebener Zeitungen und Prospekte.

Oft steigen die Fahrer aus und stehen zusammen, um zu ratschen. Der Tabak-Kauer bleibt im Auto sitzen. Nicht, daß er nichts zu sagen hätte; die anderen scharen sich mit Vorliebe um sein geöffnetes Wagenfenster. Seine Stimme ist die lebhafteste und sein Lachen das lauteste von allen. Dann scheint es, als zittere und bebe sein Wagen.
Einer der Fahrer schiebt jetzt das Garagentor hoch. Das heisere Rasseln vermischt sich mit dem Knallen von Autotüren, dem Brummen der wieder angelassenen Motoren und dem Quietschen von Bremsen, als der Truck neben der Garage zum Stehen kommt. Scheinwerfer flammen auf. Der Truckfahrer springt aus dem Führerhaus und öffnet die seitliche Schiebetür. Die Schlange setzt sich in Bewegung.
Wenn er nicht Zeitungen ausfahren würde, sagt der Tabak-Kauer, würde er nur vor dem Fernseher sitzen. Die Zeitungstour hält ihn am Leben. Er ist schon sechzig, aber seine Haare sind noch dunkel. Sie hängen unter dem Rand seiner Schiebermütze in den Nacken wie Algen aus einem Schiffswrack. Er trägt immer die gleiche Mütze. Er hat Diabetes.
Während er sich aus dem Auto wuchtet, ächzt die Karosserie und federt dann, vom Gewicht befreit, nach oben. Autos haben ihre eigene Sprache. Sie sprechen Dinge aus, für die ihre Besitzer keine Worte haben, und werden, wie in einer alten Ehe, ohne viel Worte verstanden.
Der Tabak-Kauer spuckt auf den Boden; er schwankt, eine Hand am Kotflügel abstützend, die andere zur Balance schlenkernd, um den Wagen herum zur rechten hinteren Tür, öffnet sie, packt die Zeitungsbündel, die auf der Ladefläche des Trucks bereitliegen, am Halterband, eines nach dem anderen, und wirft sie, als wären es schwerelose Bälle, ins Wageninnere; dort türmen sie sich zu einem Berg. Mit jedem Bündel sinkt das Heck tiefer.

Dann beginnt die Route.

10. Februar 2008

Europa, du Glorreiche

Ich stehe an der Bushaltestelle in Bath. Der einsetzende Nieselregen malt feine, sich kreuzende Linien in die Wasserlachen.

Über New York wird wahrscheinlich mehr berichtet als über das hinterländische Bath, deshalb überspringe ich das Kapitel ‘Mit dem Shortline-Bus nach New York und zurück’. Shortline kann hier jeder selbst googeln. Ich will mich auch nicht über Manhattans Last-Minute-Wahlkampanien verlieren, noch abschweifen, indem ich über die 300 Straßenkehrer schreibe, welche nach der Riesen-Sieger-Parade 36,5 Tonnen Konfetti zusammenfegten, obwohl sie das verdient hätten; geschweige denn über die akustischen Schrullen eines Brooklyner Heizkörpers. New York City ist ein Heuhaufen von ungefähr 206 Millionen Suchergebnissen, was wollte ich eigentlich sagen?

Eine Bö kickt den aufgespannten Regenschirm, den jemand im Eingang der Reinigung abgestellt hat, in die Seite; jetzt tanzt er über den Gehweg.
Die Reinigung befindet sich gleich neben der Bushaltestelle. Diese ist eigentlich eine Tankstelle, aber mit so viel Drum und Dran ausgestattet wie fast alles hierzulande. Man erhält Bustickets, heißen Kaffee, Zeitschriften, Lotterielose. Die Leute kommen zum Ratschen, wie zum Beispiel Joey, ein junger Schwarzer, den ich hier nur so nenne, weil ich nicht weiß, wie er in Wirklichkeit heißt.
“Hallo, wie geht’s”, sagt er im Vorbeischlendern.
“Wunderbar”, sage ich. Gerade habe ich den nassen Schirm eingefangen und wieder in den überdachten Eingang gestellt, unter dem auch ich Schutz suche. Ich warte darauf, abgeholt zu werden. In einem Nest wie Bath fällt man als Fremder auf, vor allem, wenn man länger als fünf Minuten im Regen steht.
“Ist das dein Schirm?” fragt Joey.
Ich habe bisher nur wenige Schwarze in Bath gesehen, und noch nie hat mich ein Bather angesprochen.
“Nein”, sage ich, “er gehört dem Wind!”
Joey hat keine Lust weiterzugehen. Die Straße ist bis hinter zur letzten Kreuzung von parkenden Autos gesäumt, aber die hat er alle schon auf dem Herweg studiert.
“Kann ich dich vielleicht irgendwohin einladen?” fragt er.
“Nein danke, wirklich nicht, ich werde gleich abgeholt”, sage ich.
“Ich kann dich ja nach Hause fahren”, bietet Joey an. “Das mache ich gerne!” Sein Blick schweift über meine Figur. Ich muß lachen. Ich könnte locker seine Urgroßtante sein!
“Nein, die kommen sicher jeden Moment”, sage ich.
“Wo kommst du eigentlich her? Du hast so einen komischen Akzent!” fragt Joey.
“Aus Europa.”
Joey grinst noch breiter. Er tänzelt ein paar Schritte rückwärts und wirft dabei die Arme hoch.
“Ich hab’s gewußt”, ruft er, “ich hab’s gewußt! Aus Europa! Aus Europa! Ja! Ja!! Jaaa!!!”
Sein Team hat gewonnen, absolut.
Meines auch! Es heißt Bath, hier ist ein kleiner Link zum Abschied.

Rasenmäher, Ladegeräte, Generatoren, Kapuzenshirts, kuschelige Bademäntel, Arbeitsstiefel, Wohnzimmerschränke, Drehstühle, Himbeeren aus Mexiko, kalifornische Blaubeeren, hawaiianischer Zaubertrank, Zucker in Säcken und Salsa in Containern, Computer, Bildschirme, Plastikgabeln im Tausender-Karton, Torten in Regenbogenfarben, Baseball-Tore auf soliden Stahlständern, Granatapfelsaft - es gibt fast alles bei Sam’s Club, meistens jedoch nur jeweils eine Sorte. Es gibt zum Beispiel nur eine Sorte Klavier, eine Sorte Digital-Schlagzeug, eine Sorte Gitarre, und das Schaustück hat eine angeschlagene Ecke. Es gibt nur eine Sorte Holzfällerjeep für Waldbesitzer. Tut-tut! Der Lagerist fährt eine Elektrolok durch die Reihen, auf deren Anhänger sich die Paletten türmen.
Die Mitgliedschaft im Club kostet etwa fünfzig Dollar im Jahr. Wenn das nichts ist!
An jeder Ecke steht ungefähr eine fidele Seniorin, welche mit geheimnisvollem Lächeln pfiffig kreierte Häppchen anbietet. Die Einkaufswägen sind kobaltblau und güterwagengroß. Hinten ragen die Tiefkühlvitrinen in die Höhe wie die Mauern einer Reihenhauszeile. Darüber knallt in zinnoberroten Riesenlettern: “Meat”. Fleisch!
Wer selbst das nicht lesen kann, ist zum Sehtest auf der gegenüberliegenden Seite eingeladen.

8. Dezember 2007

Nußecken-Romanze

Wer mehr über die Gelungenheit einer Liason von Bäckerei und Poststelle wissen will, braucht nur zum Huber zu gehen.
Hier gibt es außer Backwaren zum Beispiel auch Altarkerzen, Bindfaden, Melkfett, Streichhölzer, Pflaster, Schulhefte, Kinderkleidung, Plastikspielzeug, Lebensmittel und Produkte der Regenbogenpresse. Auf dem Tisch neben der Tür stehen drei gefällig arrangierte Lebkuchenpackungen. Auch in den Regalen ist alles nur lose verteilt - als ob sich die Waren nicht mal ansatzweise Mühe gäben, die Rostflecken verbergen. Oder ist es Mäusedreck? Oder verschimmelte Sabber-Reste vom Schäferhund? Unter der kahlen, neonbeleuchteten Decke hängt schwer und penetrant der Geruch von Backduftstoffen. Der Postschalter befindet sich gleich bei der Eingangstür.
Bevor die Huberin die Szene betritt, späht sie mißtrauisch aus dem Nebenraum. Kundschaft? Säuerlich nimmt sie meine zwei Briefe entgegen. Zunächst einmal wird gewogen.
Von manchen Menschen heißt es, jeder ihrer Gedanken, sofern einmal gefaßt, werde im gleichen Moment ausgesprochen. Was aber, wenn sie schweigen?
“Da hammer 55, des is normal,” sagt sie. “Der andere kostet normal 1,45, ja, des is normal.” Sie studiert Adresse und Absender. Stumm bewegen sich ihre Lippen. Dann pappt sie mit wichtiger Miene die Marken auf.
In den Vitrinen neben dem Postschalter lagert eine Geröllhalde aufgeblähter Semmeln. Daneben stapeln sich die Nußecken. Sie sind heute überwältigend groß. Man könnte Städte damit bauen! Zumindest ein Schloß … eine Festung aus dreieckigen Backsteinen, mit Türmen, Zinnen und Sälen, ausladend wie Montagehallen.
Das Regime auf Schloß Nußeck führt die schwer überkandidelte Prinzessin Rumaroma. Sie wird umworben von den heiratslustigen Gesellen Prinz Palmin und Prinz Glasur, fettig der eine, zuckerig der andere; wichtigtuerisch sind sie alle beide.
Wem wird die Prinzessin heute ihre Gunst gewähren? Welchen der beiden wird sie zuerst küssen?
Auch die Huberin schürzt jetzt ihre Lippen. Sie hebt das Kinn. Durch ihre Lesebrille hindurch fixiert sie die Marke. Dann läßt sie den Stempel herabsausen. Es gibt einen leichten Knall, gefolgt von einem zweiten.
So geht es auch.
Jetzt kann die Post abgehen. Keine weiteren Fragen mehr!

5. Dezember 2007

Weihnachten, wir kommen

Manche Geschichten beginnen wie eine planlose Fahrt ins Nichts-Genaues-weiß-man-nicht. Exakt. Also bloß nicht nachdenken! Nicht nachdenken … irgendwas wird dann schon passieren. Ich weiß nur noch nicht wann, wo und warum.

Die Ihle-Verkäuferin zum Beispiel legt die heißen, frisch auf dem Ofen genommenen Semmeln zum Auskühlen auf einen Gitterrost. Die Semmeln duften herrlich - zwar nicht nach Lebkuchen, aber nach Backstube und Behaglichkeit. Draußen trotzt die eingezäunte Herde der Weihnachtsbäume dem eisigen Ostwind, mit bunten Plastik-Preisschildchen an den Wipfeln. Der Baumhüter schlurft fröstelnd hin und her. Der Winter ist längst da, aber wo ist Weihnachten?

Die Verkäuferin ist jetzt fertig und dreht sich zu mir um. Wenn sie Schicht hat, ist das oberste Regal immer leer - nicht, weil ihr der Nachschub ausgegangen ist, sondern weil sie zu kurz ist. Um mühelos hinreichen zu können, füllt sie diejenigen Brote, die normalerweise ganz oben liegen, in die unteren Regale um. Sie ist um ungefähr zwei bis fünf Kopf kleiner als ich. Sie hat lustige braune Augen, rote Backen, struppiges kurzes Haar und eine Zwergenstupsnase.

“Es ist so schön warm bei Ihnen”, sage ich. Sie lacht. “Heute nicht, heute habe ich sogar Strümpfe an”, sagt sie. “Normal bin ich immer barfuß.” Dabei schiebt sie zwei Seelen in eine Tüte.

Sie ist bestimmt eine echte Zwergin. Die haben es immer ganz gemütlich, tief in ihrer Wurzelhöhle mitten im Wald. Da werden zusammen mit den Rotkehlchen, Eichhörnchen und Rehen den ganzen Abend lang Weihnachtslieder gesungen. Es gibt Zwergenlebkuchen mit Glühwein, und Fuchs und Hase schauen einträchtig zu. Die Zwerge sind, habe ich gehört, Weltmeister im Koordinieren, und äußerst patent, wenn es um die unauffällige Umsetzung von Event-Projekten geht.

So trug es sich also zu, daß der Wald sich auf Reisen begab. Die Fichten kleideten sich in flotte Netzmäntel. Sie steckten sich grüne, gelbe, blaue und rote Wimpel ins Haar und sprangen auf die Ladeflächen vollgetankter Sattelzugmaschinen, Agentinnen der Friedlichkeit. Die Zwerge verloren keine Zeit. Damit Weihnachten rechtzeitig beim Edeka ankommen würde, wurde der Himmel mit einem verdrossenen, pappnassen Vorhang zugehängt, die Backstube aber angeheizt und in emsigem Betrieb gehalten.

Wenn es dann soweit ist, sagen Fuchs und Hase gute Nacht. Alles nach Plan!

Na, dann frohe Weihnachten.

22. November 2007

Socken am Rhein

Liebe Nadine,

diese Socken hat Frau Merquel gestrickt. Sie haben 11 Euro gekostet, aber ich habe ihr 15 gegeben. “Das gibt neue Wolle!” sagt sie beim Abschied, zwinkert und wedelt ein bißchen mit den Scheinen. Wenn man von jeder Farbe zwei Knäuel hat, fügt sie hinzu, kann man zusammengehörende Socken immer gleichzeitig stricken. So werden sie am besten.

Frau Merquel hat sowohl eine kleine Pension wie auch ein Faible für Handarbeiten. Letztes Jahr, sagt sie, habe sie über hundert Deckchen gehäkelt, und alle seien weggegangen. Sie lebt mit ihrer Katze im ersten Stock. Sie trägt eine Brille mit Goldgestell und einen schmalen, goldenen Ehering. Alles an ihr ist irgendwie golden. Sie ist Eisenbahnerwitwe und kann nicht mehr gut laufen. Sie spricht mit leiser Stimme. Wenn sie nichts anderes zu tun hat, strickt sie.

Unten, im Erdgeschoß, schlafen die Gäste. Frau Mergel erzählt mir, daß sich in ihrer Garage über vierzig leere Getränkekisten stapeln. Bei Hochwasser werden fünf Leute benötigt - vier heben das Bettgestell hoch, einer schiebt Kisten darunter.

Das Hochwasser kommt vom Rhein, der gleich neben dem Haus vorbeifließt. Dazwischen befindet sich nur noch eine schmale Straße und ein Grünstreifen.

Heute ahnt man nur wenig vom Hochwasser. Bei der ein paar hundert Meter entfernten Autofähre steht ein Pappschild: Niedrigwasser - keine Wohnmobile. Aber das hat jetzt mit den Socken nicht mehr viel zu tun … auch die Rhein-Schlepper nicht, die träge vorbeituckern; auch nicht die Taucherklasse, die eine sonntägliche Übstunde abhält; auch nicht die Burgen, Türme, Schlösser und Ruinen, die nach jeder Kurve in einer neuen Variante erscheinen; auch nicht die vierschrötige Metall-Lorelei, die trotzig mitten im Fluß hockt, am Ende einer begehbaren Aufschüttung aus Beton, Kies und Felsbrocken.

Hinter uns spannt sich ein leuchtender Regenbogen über das Rheintal, vor uns liegt nichts als nasses Grau. Am Rhein, sagt man, seien die Menschen besser gelaunt als sonstwo in Deutschland. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber zumindest scheinen sie zu wissen, wie man Socken in bunten Farben herstellt, die gar nicht anders können als gute Laune machen.

Ich wette darauf !