29. September 2008

Der gelbe Umschlag

Mit Unschuldsmiene hocken die Zeitungsbündel auf dem Rücksitz. Noch haben sie nicht damit geprotzt, wie schwer sie sein können, vor allem dann, wenn man sie während der Fahrt nach vorne hievt. Es riecht nach frischer Druckfarbe. “Stuczynski”, rufen sie. “Stuczynski Wins Silver in Olympic Pole Vault!”
Der gelbe Umschlag ist jetzt wichtiger. Den händigt der Truckfahrer zum Schluß aus. In ihm stecken alle wichtigen Informationen zur heutigen Route.
Oh wundervolle, wundervolle Route, singt Jack, während er den Umschlag öffnet.
Ein Kunde spendiert 1 Dollar Trinkgeld.
Die Andersons sind umgezogen.
Die Taylors wechseln von 7x zu 2x, sie bekommen die Zeitung jetzt nur noch am Samstag und am Sonntag - und ungefragt an denjenigen Tagen, welche der C&D als Feiertag festlegt. Das kostet extra Gebühren; im Vertrag wird der Kunde nicht darauf hingewiesen, daß er die Zustellung von Sonderausgaben ablehnen kann.
Die Smiths - von Beruf Snowbirds - sind zurück und wollen 5x - also nur wochentags.

Der gelbe Umschlag weiß nicht alles.
Hat zum Beispiel die alte Lady in der Aalstraße endlich ihre Box geleert?
Wo sind heute nacht die Hirsche? Versammeln sie sich auf ihrer Lieblingsweide, bleiben sie unsichtbar, naschen sie wieder aus den Blumenkästen vor den Fenstern des Hauses Nr. 1788, lugen sie aus dem Straßengraben hervor, sprinten sie im allerletzten Moment quer über die Straße, oder hechten sie zurück in den sicheren Wald? Bleiben die Zeitungstürme dann auf dem Rücksitz stehen, oder fallen sie in sich zusammen wie ein Kartenspiel, das neu gemischt wird?
Sind die Cops unterwegs heute nacht?
Hört man die Zikaden singen?
Sind die Ahornbäume auf dem kleinen Friedhof bei French Hill schon für die Saftgewinnung angezapft?
Ist das verlassene Haus an der Porter Road versteigert worden?
Werden die Radlager durchhalten?
Wird es regnen, stürmen, schneien?
Hat der Bewohner des ‘Hauses der sieben Lichter’ endlich die achte Glühbirne erneuert?

Der gelbe Umschlag fliegt in den Fußraum. Wir werden sehen!

30. März 2008

Der Tabak-Kauer

Immer, wenn der Tabak-Kauer aus dem Auto steigt, wundere ich mich, wie lange er das noch machen wird. Ich bin da sicher nicht die einzige. Meistens ist er der erste oder zweite in der Schlange der Fahrer, die auf den Truck warten.

Es ist jede Nacht das gleiche.

Manchmal liegt schwerer Nebel über dem Platz. Manchmal bläst ein scharfer, frostiger Wind. Manchmal regnet es. Dann spiegelt sich das Licht der Straßenlaternen orangefarben in den Pfützen und auf dem nassen, schwarzen Teer, und die dunklen Konturen des vor uns stehenden Wagens zerfließen mit den Tropfen auf unserer Windschutzscheibe.
Die Fahrer sind das Wetter gewohnt. In kalten Nächten lassen sie die Motoren laufen. Die Lichter bleiben ausgeschaltet, bis der Truck um die Ecke biegt. Sonst ist niemand da. Es gibt nur die zwei breiten, ringsum von Garagentoren gesäumten Gassen. Hier wird die druckfrische Ausgabe des C&D an die Zeitungskuriere verteilt. Jeder hat eine andere Route zu fahren; manche davon führen weit hinaus, tief in die einsamen Ecken und Winkel von Steuben County, und dauern bis zum Morgengrauen.
Es kann passieren, daß ein Fahrer beim Warten einschläft und nicht aufwacht, wenn der Truck da ist. Dann ziehen diejenigen, die hinter ihm stehen, an ihm vorbei, und falls der letzte nicht an seine Scheibe geklopft hat, tut es der Truckfahrer. Es ist kurz nach Mitternacht; die meisten haben noch einen Hauptjob, den sie tagsüber ausüben. Ein zweiter Job wird bei der Einstellung dringend empfohlen. Die Bezahlung ist schlecht, kein Mensch kann wirklich davon leben.
Diejenigen, die noch später kommen, finden ihre gestapelten Bündel in der vom C&D angemieteten Garage. Dort steht auch der Container zur Entsorgung übriggebliebener Zeitungen und Prospekte.

Oft steigen die Fahrer aus und stehen zusammen, um zu ratschen. Der Tabak-Kauer bleibt im Auto sitzen. Nicht, daß er nichts zu sagen hätte; die anderen scharen sich mit Vorliebe um sein geöffnetes Wagenfenster. Seine Stimme ist die lebhafteste und sein Lachen das lauteste von allen. Dann scheint es, als zittere und bebe sein Wagen.
Einer der Fahrer schiebt jetzt das Garagentor hoch. Das heisere Rasseln vermischt sich mit dem Knallen von Autotüren, dem Brummen der wieder angelassenen Motoren und dem Quietschen von Bremsen, als der Truck neben der Garage zum Stehen kommt. Scheinwerfer flammen auf. Der Truckfahrer springt aus dem Führerhaus und öffnet die seitliche Schiebetür. Die Schlange setzt sich in Bewegung.
Wenn er nicht Zeitungen ausfahren würde, sagt der Tabak-Kauer, würde er nur vor dem Fernseher sitzen. Die Zeitungstour hält ihn am Leben. Er ist schon sechzig, aber seine Haare sind noch dunkel. Sie hängen unter dem Rand seiner Schiebermütze in den Nacken wie Algen aus einem Schiffswrack. Er trägt immer die gleiche Mütze. Er hat Diabetes.
Während er sich aus dem Auto wuchtet, ächzt die Karosserie und federt dann, vom Gewicht befreit, nach oben. Autos haben ihre eigene Sprache. Sie sprechen Dinge aus, für die ihre Besitzer keine Worte haben, und werden, wie in einer alten Ehe, ohne viel Worte verstanden.
Der Tabak-Kauer spuckt auf den Boden; er schwankt, eine Hand am Kotflügel abstützend, die andere zur Balance schlenkernd, um den Wagen herum zur rechten hinteren Tür, öffnet sie, packt die Zeitungsbündel, die auf der Ladefläche des Trucks bereitliegen, am Halterband, eines nach dem anderen, und wirft sie, als wären es schwerelose Bälle, ins Wageninnere; dort türmen sie sich zu einem Berg. Mit jedem Bündel sinkt das Heck tiefer.

Dann beginnt die Route.