22. November 2007
Socken am Rhein
Liebe Nadine,
diese Socken hat Frau Merquel gestrickt. Sie haben 11 Euro gekostet, aber ich habe ihr 15 gegeben. “Das gibt neue Wolle!” sagt sie beim Abschied, zwinkert und wedelt ein bißchen mit den Scheinen. Wenn man von jeder Farbe zwei Knäuel hat, fügt sie hinzu, kann man zusammengehörende Socken immer gleichzeitig stricken. So werden sie am besten.
Frau Merquel hat sowohl eine kleine Pension wie auch ein Faible für Handarbeiten. Letztes Jahr, sagt sie, habe sie über hundert Deckchen gehäkelt, und alle seien weggegangen. Sie lebt mit ihrer Katze im ersten Stock. Sie trägt eine Brille mit Goldgestell und einen schmalen, goldenen Ehering. Alles an ihr ist irgendwie golden. Sie ist Eisenbahnerwitwe und kann nicht mehr gut laufen. Sie spricht mit leiser Stimme. Wenn sie nichts anderes zu tun hat, strickt sie.
Unten, im Erdgeschoß, schlafen die Gäste. Frau Mergel erzählt mir, daß sich in ihrer Garage über vierzig leere Getränkekisten stapeln. Bei Hochwasser werden fünf Leute benötigt - vier heben das Bettgestell hoch, einer schiebt Kisten darunter.
Das Hochwasser kommt vom Rhein, der gleich neben dem Haus vorbeifließt. Dazwischen befindet sich nur noch eine schmale Straße und ein Grünstreifen.
Heute ahnt man nur wenig vom Hochwasser. Bei der ein paar hundert Meter entfernten Autofähre steht ein Pappschild: Niedrigwasser - keine Wohnmobile. Aber das hat jetzt mit den Socken nicht mehr viel zu tun … auch die Rhein-Schlepper nicht, die träge vorbeituckern; auch nicht die Taucherklasse, die eine sonntägliche Übstunde abhält; auch nicht die Burgen, Türme, Schlösser und Ruinen, die nach jeder Kurve in einer neuen Variante erscheinen; auch nicht die vierschrötige Metall-Lorelei, die trotzig mitten im Fluß hockt, am Ende einer begehbaren Aufschüttung aus Beton, Kies und Felsbrocken.
Hinter uns spannt sich ein leuchtender Regenbogen über das Rheintal, vor uns liegt nichts als nasses Grau. Am Rhein, sagt man, seien die Menschen besser gelaunt als sonstwo in Deutschland. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber zumindest scheinen sie zu wissen, wie man Socken in bunten Farben herstellt, die gar nicht anders können als gute Laune machen.
Ich wette darauf !