3. November 2008

Himmelsleiter

13. August 2008

Am Teich

“Ja mei, so a Idylle”, vermerkt eine des Weges kommende Radlerin zu ihrem Begleiter.
Ich vermute, meine Anwesenheit mit Skizzenblock hat sie zu solcher Schwelgerei verleitet; Sonnenuntergänge an im freien Gelände liegenden bayerischen Froschteichen gibt es schließlich jeden Tag.

Den Gedankengang zur Idylle eliminiere ich auf der Stelle. Auch wenn es nicht so aussieht, aber ich habe hier alle Hände voll zu tun. Schnellschnell!

Denn pünktlich wie die Sonne selbst sinken auch die Schatten, zum Glück mit einer Geschwindigkeit von nur etwa 1666 Stundenkilometern. Routiniert legen sie sich über das Wiesenstück; ihre dunklen Zungen lecken alles auf, was eben noch im Licht flimmerte und gleißte. Die Seerosenblätter ihrerseits lassen sich nicht lumpen. Launisch dümpeln sie gen Nordosten, wo unverdrossene kleine Winde die Oberfläche des Wassers kämmen, mal mit dem Strich, mal gegen ihn. Oder war das eine Forelle? Kaum schaue ich wieder hin, sieht alles anders aus. Trübe glotzt der Teich zurück. Er blubbert ein bißchen. Ein Frosch antwortet. Ringsherum zirpen die Grillen um die Wette. Die Erde wirbelt in die Nacht hinein, quirlige Planeten mischen den Himmel auf, Quanten hüpfen und springen, nichts ist wie es mal war.

Wer an einem Feldweg sitzt und zeichnet, ist vor Überraschungen nie sicher. Das gleiche gilt natürlich für alle anderen, die ihn benutzen.
Da tuckert etwa der Bauer Anton auf seiner Zugmaschine heran. Ich nicke zurück. Kurz darauf biegt der Nachbar Müller, ebenfalls auf dem Traktor, um die gleiche Kurve. Er schaltet in den Kriechgang, während er sich schier den Hals verrenkt. Ich halte die Zeichenmappe hoch. “Schaut ja scho guat aus”, ruft er, ohne anzuhalten, aus dem Geknatter heraus. Er grinst, schaltet wieder hoch und gibt Gas.
Einer aus dem Trupp der Sportsfreunde, die zielgerade in einen Sack-Feldweg geradelt waren, ruft mir beim Wenden frech zu: “Wir wollten nur mit aufs Bild kommen!”
Ein Hase bleibt auf dem Weg hocken. Bussarde kreisen über mir, und im Unkraut zu meinen Füßen finden die reinsten olympischen Spiele statt.
Für weitere Studien stelle ich mir Autobahnraststätten, U-Bahnhöfe, Fußgängertunnel, Einkaufspassagen und ähnlich zivilisierte Plätze vor. Die Idylle kann ich dann schon selbst mitbringen.

8. Dezember 2007

Nußecken-Romanze

Wer mehr über die Gelungenheit einer Liason von Bäckerei und Poststelle wissen will, braucht nur zum Huber zu gehen.
Hier gibt es außer Backwaren zum Beispiel auch Altarkerzen, Bindfaden, Melkfett, Streichhölzer, Pflaster, Schulhefte, Kinderkleidung, Plastikspielzeug, Lebensmittel und Produkte der Regenbogenpresse. Auf dem Tisch neben der Tür stehen drei gefällig arrangierte Lebkuchenpackungen. Auch in den Regalen ist alles nur lose verteilt - als ob sich die Waren nicht mal ansatzweise Mühe gäben, die Rostflecken verbergen. Oder ist es Mäusedreck? Oder verschimmelte Sabber-Reste vom Schäferhund? Unter der kahlen, neonbeleuchteten Decke hängt schwer und penetrant der Geruch von Backduftstoffen. Der Postschalter befindet sich gleich bei der Eingangstür.
Bevor die Huberin die Szene betritt, späht sie mißtrauisch aus dem Nebenraum. Kundschaft? Säuerlich nimmt sie meine zwei Briefe entgegen. Zunächst einmal wird gewogen.
Von manchen Menschen heißt es, jeder ihrer Gedanken, sofern einmal gefaßt, werde im gleichen Moment ausgesprochen. Was aber, wenn sie schweigen?
“Da hammer 55, des is normal,” sagt sie. “Der andere kostet normal 1,45, ja, des is normal.” Sie studiert Adresse und Absender. Stumm bewegen sich ihre Lippen. Dann pappt sie mit wichtiger Miene die Marken auf.
In den Vitrinen neben dem Postschalter lagert eine Geröllhalde aufgeblähter Semmeln. Daneben stapeln sich die Nußecken. Sie sind heute überwältigend groß. Man könnte Städte damit bauen! Zumindest ein Schloß … eine Festung aus dreieckigen Backsteinen, mit Türmen, Zinnen und Sälen, ausladend wie Montagehallen.
Das Regime auf Schloß Nußeck führt die schwer überkandidelte Prinzessin Rumaroma. Sie wird umworben von den heiratslustigen Gesellen Prinz Palmin und Prinz Glasur, fettig der eine, zuckerig der andere; wichtigtuerisch sind sie alle beide.
Wem wird die Prinzessin heute ihre Gunst gewähren? Welchen der beiden wird sie zuerst küssen?
Auch die Huberin schürzt jetzt ihre Lippen. Sie hebt das Kinn. Durch ihre Lesebrille hindurch fixiert sie die Marke. Dann läßt sie den Stempel herabsausen. Es gibt einen leichten Knall, gefolgt von einem zweiten.
So geht es auch.
Jetzt kann die Post abgehen. Keine weiteren Fragen mehr!

2. September 2007

Achtung, Zeitreisende!

Hier, an einem Ort fragiler Schönheit, erscheint die Zeit glamourös, ihr Mangel hingegen flüchtig wie Nebel am frühen Morgen.

In alten Geschichten kräht der Hahn in die Stille hinein. In neueren sind es die Pendler, die Zeitreisenden, die Lenker des Schwerverkehrs, die das Dorf aufmischen; denn mittenhindurch schiebt sich, wie die Zunge einer tosenden Brandung, der Autobahnzubringer.

Sie brettern besinnnungslos übers Land. Sie jagen, was das Zeug hält. Sie donnern heran und wischen alles zur Seite, was nicht auf den fahrenden Zug aufspringt; und jeden Tag erhalten wir aufs neue den dröhnenden Ritterschlag zur namenlosen Vorstadt. Dann erscheint die Zeit flüchtig, aber ihr Mangel glamourös.

Wahrscheinlich sind Städte so etwas wie Zeitkraftwerke. Man wirft seine Lebenszeit hinein; am anderen Ende des Strudels kommt sie mundfertig gebacken wieder zutage. Das einzige Übel ist, ihrer dann habhaft zu werden.

Natürlich kann trotzdem jeder im Rinnstein hocken, um Ameisen zu beobachten.

1. September 2007

Die Schneeglöckchen-Oma

Sie heißt nicht wirklich so. Ihren Namen bekam sie wegen einer verwegenen, weil nicht angekündigten Schneeglöckchen-Ausgrab-Aktion in unserem Garten. Die Schneeglöckchen wachsen hier verschwenderisch wie Bergbäche, die sich dunkelgrün am Hang ergießen, mit weißen, zierlich im Märzwind wippenden Schaumkronen.
Die Schneeglöckchen-Oma kündigt sich nie an; manchmal ist es ihr Zweitakter-Deutz, der klappernd ihre Tour durchs Dorf dokumentiert. Manchmal schnauft sie am Stock daher. Oder sie schiebt einen Kinderwagen, in dessen Inneres Enkel und Gartenschere in trauter Eintracht gebettet sind. Sie zeigt mir, wie man den Hang mit der Sense mäht; sie liest mir aus der Sonntagszeitung vor, sorgfältig Blatt um Blatt wendend. Es geht um Ferkelzucht und Kochrezepte.
Sie kommt mit einem erlegten Gockel in der Hand, den sie mir stumm, aber triumphierend entgegengestreckt, eine kittelbeschürzte Botin des jüngsten Gerichts. Der Gockel baumelt vor meinen Augen.
“Mein Hund war es nicht!” schwöre ich. “Wieviel hätten Sie denn dafür gewollt?”
“Fünf Mark wären das schon gewesen,” lacht sie versöhnlich. Sie legt den Hühnerich wieder auf die Anhängerkupplung und gibt Gas. Das Tuckern wandert weiter. Es vermengt sich mit dem Röhren des Verkehrs auf der Hauptstraße; es wird leise und entschwindet dann gänzlich.
Wir leben hier an einem Autobahnzubringer. Dagegen kommen selbst die Schneeglöckchen nicht an.

20. August 2007

Birnensymphonie

Ende August fallen die Birnen im Minutentakt; Tag und Nacht erklingen Autodach, Stadelschrott, Mörteleimer, Bretterstapel, Brennesselgestrüpp, Asphalt und Wiese - eben soweit der Trommelstock reicht.
Dong! Es ist Erntezeit. Ding! War nicht ein Ölwechsel fällig? Buff! Die Straße muß dringend gekehrt werden. Blong! Wann wird die Schneeglöckchen-Oma auf ihrem Zweizylinder zur alljährlich fälligen Birnen-Inspektion antuckern?
Auf der Straße bildet sich eine Kruste festgefahrener Birnen, die in der Hitze backt; im Rinnstein gärt der Matsch. Wespen, Bienen und Hornissen liegen betrunken auf dem Rücken. Schwärme von Drosseln ziehen marodierend durch die Gärten. Wenn sie einfallen, setzt der Birnbaum zum Prestissimo an; er schwirrt, kreischt, zwitschert, flötet; er lallt im schweren Rausch. Zum Auftakt des Vivace klatsche ich in die Hände.
Das Finale hingegen ist nur ein unpathethischer kleiner Seufzer, den man leicht verpennt.
Pflopp.

3. Juni 2007

Im Apfelland

Willkommen im Apfelland - und nein, hier wird nichts verkauft.
Das Apfelland befindet sich hinter dem Stadel. Zum Stadel gelangt man, wenn man nach dem Maibaum links abbiegt und sich dann Richtung Birnbaum hält. Der ist so groß, daß schon Schulklassen davor stehengeblieben sind. “Das”, hört man dann die Lehrerin dozieren, “ist ein Birnbaum!” - Ausrufezeichen.
Im Apfelland steht ein ebenso großer Birnbaum, dazu mehrere Apfelbäume, ein Zwetschgenbaum und ein zweiter, kleinerer Birnbaum mit den süssesten, saftigsten Früchten, die wohl je ein Birnbaum zu produzieren instande sein wird.
Das Apfelland ist ein Ort vieler Geschichten. Hier, im Schatten des großen Birnbaums, hockt sperrig ein VW-Bus. Angeblich hat er in besseren Zeiten als Bienenhaus gedient. Mit sorglosen Händen arbeitet die Zeit daran, seine Überreste mit dem nicht minder löchrigen Kaninchenbau, der einst unter den Felgen gegraben wurde, zu vereinen. Das kann noch dauern.
Hier wurden Zelte aufgestellt, Lagerfeuer entzündet, Lieder zum Sternenhimmel gesungen; angeheiterte Teenager kotzten in die Holunderbüsche; es wurden Gedichte in die Tastatur gehackt; es wurden Früchte geerntet; es wurde nichts getan. Unmögliches erschien möglich, während das Mögliche selbst sich beschränkt gab; forderte es doch ein, sich den dem Apfelland zutiefst eigenen Abläufen ganz widerstandslos zu ergeben. Über alledem wuchs unverdrossen das Gras, wie auch das Unkraut der Gedanken.