29. Oktober 2008
Spaziergang im Spreewald, schottische Version
Pilze gibt es reichlich dieses Jahr. Ich bücke mich außerdem nach den Scherben einer geblümten Vase, einem zerbrochenen Lampenschirm aus Glas, einem emaillierten Milchkannendeckel, einem Tennisnetz, einer Tomate, einem Knochen, einer versprengten Kastanie, einem Styroporbecher, etlichen Flaschen und dem verrosteten Rahmen eines, wie ich vermute, ehemals nützlichen Gegenstandes. Seine Beschreibung will ich mir ersparen, unnütz wären die Worte. Nur soviel: Er paßt zum Deckel.
Aus der Tiefe des Waldes dringt Musik; es sind ferne, einsame, stolze Dudelsackklänge.
Da brauche ich mich wenigstens nicht zu bücken!
15. August 2008
My Diary of Sight & Sound
8. August 2008
Spaziergang im Spreewald, 1-2-3-4
Was man hier nicht sieht, sind Bremsen. Sie hausen in den getrockneten Kuhfladen, mit denen die Wiese gepflastert ist. Tritt man auf einen, hat man erstens einen guten Grund, zweitens seine Schritte beim Wettlauf sorgfältiger zu plazieren.
Was man drittens nicht sieht, sind Störche im Gleitflug, die Rücken einer Kuh-Gesellschaft, die Achterbahnkurven der Schwalben, Grashüpfer in feschen grünen Anzügen, den hellen Sand auf einem schnurgeraden Feldweg, die Brennesseln im dunklen Schilf, die Spree und patsch! da war schon wieder eine.
17. Juli 2008
Die Kunst des Filterns
Auf der Suche nach einem alpinen Motiv, einem schattigem Parkplatz und ein paar Stunden Ruhe (in dieser Reihenfolge) stößt man während jeder Phase ganz unweigerlich auf frustrierende Elemente, die flugs ausgefiltert werden wollen.
Wenn das nur so einfach wäre!
Hier zum Beispiel donnern mächtige Ausflugsbusse voller schwitzender Reisender quer durch die Szenerie; sie kommen in Endlosschleifen von rechts und von links und reichen bis knapp unter den oberen Bildrand. Die Staubhosen, welche sie aufwirbeln, sind mit den bitteren Schwaden ihrer Auspuffgase angereichert. Motorradfahrer hingegen verdecken gerade mal die vordersten Reihen des Tannengrüns, dafür hört man das Dröhnen ihrer schweren Maschinen über eine Distanz von mindestens fünfundvierzig (sauber hingelegten) Kurven. Es gibt nur diese eine Straße; sie ist der Trichter, ich filtere.
Wumm! Wumm! Wumm! Wumm! Wumm!
Auf dem fernen Gipfel* indes herrscht Ruh’; als ob es da sonst nichts zu tun gäbe.
*Zugspitze oder Watzmann?
6. Juli 2008
Brunnenhaus
5. Juli 2008
Ich sehe was, was du nicht siehst
Ich sehe was, was du nicht siehst, und seine Farbe ist grau;
sein Leib ist steinern, sein Wesen verborgen,
seine Stimme der Schlag der Glocke bei Tag und bei Nacht
und der Schrei des Falken, den er beherbergt.
5. Dezember 2007
Weihnachten, wir kommen
Manche Geschichten beginnen wie eine planlose Fahrt ins Nichts-Genaues-weiß-man-nicht. Exakt. Also bloß nicht nachdenken! Nicht nachdenken … irgendwas wird dann schon passieren. Ich weiß nur noch nicht wann, wo und warum.
Die Ihle-Verkäuferin zum Beispiel legt die heißen, frisch auf dem Ofen genommenen Semmeln zum Auskühlen auf einen Gitterrost. Die Semmeln duften herrlich - zwar nicht nach Lebkuchen, aber nach Backstube und Behaglichkeit. Draußen trotzt die eingezäunte Herde der Weihnachtsbäume dem eisigen Ostwind, mit bunten Plastik-Preisschildchen an den Wipfeln. Der Baumhüter schlurft fröstelnd hin und her. Der Winter ist längst da, aber wo ist Weihnachten?
Die Verkäuferin ist jetzt fertig und dreht sich zu mir um. Wenn sie Schicht hat, ist das oberste Regal immer leer - nicht, weil ihr der Nachschub ausgegangen ist, sondern weil sie zu kurz ist. Um mühelos hinreichen zu können, füllt sie diejenigen Brote, die normalerweise ganz oben liegen, in die unteren Regale um. Sie ist um ungefähr zwei bis fünf Kopf kleiner als ich. Sie hat lustige braune Augen, rote Backen, struppiges kurzes Haar und eine Zwergenstupsnase.
“Es ist so schön warm bei Ihnen”, sage ich. Sie lacht. “Heute nicht, heute habe ich sogar Strümpfe an”, sagt sie. “Normal bin ich immer barfuß.” Dabei schiebt sie zwei Seelen in eine Tüte.
Sie ist bestimmt eine echte Zwergin. Die haben es immer ganz gemütlich, tief in ihrer Wurzelhöhle mitten im Wald. Da werden zusammen mit den Rotkehlchen, Eichhörnchen und Rehen den ganzen Abend lang Weihnachtslieder gesungen. Es gibt Zwergenlebkuchen mit Glühwein, und Fuchs und Hase schauen einträchtig zu. Die Zwerge sind, habe ich gehört, Weltmeister im Koordinieren, und äußerst patent, wenn es um die unauffällige Umsetzung von Event-Projekten geht.
So trug es sich also zu, daß der Wald sich auf Reisen begab. Die Fichten kleideten sich in flotte Netzmäntel. Sie steckten sich grüne, gelbe, blaue und rote Wimpel ins Haar und sprangen auf die Ladeflächen vollgetankter Sattelzugmaschinen, Agentinnen der Friedlichkeit. Die Zwerge verloren keine Zeit. Damit Weihnachten rechtzeitig beim Edeka ankommen würde, wurde der Himmel mit einem verdrossenen, pappnassen Vorhang zugehängt, die Backstube aber angeheizt und in emsigem Betrieb gehalten.
Wenn es dann soweit ist, sagen Fuchs und Hase gute Nacht. Alles nach Plan!
Na, dann frohe Weihnachten.
22. November 2007
Socken am Rhein
Liebe Nadine,
diese Socken hat Frau Merquel gestrickt. Sie haben 11 Euro gekostet, aber ich habe ihr 15 gegeben. “Das gibt neue Wolle!” sagt sie beim Abschied, zwinkert und wedelt ein bißchen mit den Scheinen. Wenn man von jeder Farbe zwei Knäuel hat, fügt sie hinzu, kann man zusammengehörende Socken immer gleichzeitig stricken. So werden sie am besten.
Frau Merquel hat sowohl eine kleine Pension wie auch ein Faible für Handarbeiten. Letztes Jahr, sagt sie, habe sie über hundert Deckchen gehäkelt, und alle seien weggegangen. Sie lebt mit ihrer Katze im ersten Stock. Sie trägt eine Brille mit Goldgestell und einen schmalen, goldenen Ehering. Alles an ihr ist irgendwie golden. Sie ist Eisenbahnerwitwe und kann nicht mehr gut laufen. Sie spricht mit leiser Stimme. Wenn sie nichts anderes zu tun hat, strickt sie.
Unten, im Erdgeschoß, schlafen die Gäste. Frau Mergel erzählt mir, daß sich in ihrer Garage über vierzig leere Getränkekisten stapeln. Bei Hochwasser werden fünf Leute benötigt - vier heben das Bettgestell hoch, einer schiebt Kisten darunter.
Das Hochwasser kommt vom Rhein, der gleich neben dem Haus vorbeifließt. Dazwischen befindet sich nur noch eine schmale Straße und ein Grünstreifen.
Heute ahnt man nur wenig vom Hochwasser. Bei der ein paar hundert Meter entfernten Autofähre steht ein Pappschild: Niedrigwasser - keine Wohnmobile. Aber das hat jetzt mit den Socken nicht mehr viel zu tun … auch die Rhein-Schlepper nicht, die träge vorbeituckern; auch nicht die Taucherklasse, die eine sonntägliche Übstunde abhält; auch nicht die Burgen, Türme, Schlösser und Ruinen, die nach jeder Kurve in einer neuen Variante erscheinen; auch nicht die vierschrötige Metall-Lorelei, die trotzig mitten im Fluß hockt, am Ende einer begehbaren Aufschüttung aus Beton, Kies und Felsbrocken.
Hinter uns spannt sich ein leuchtender Regenbogen über das Rheintal, vor uns liegt nichts als nasses Grau. Am Rhein, sagt man, seien die Menschen besser gelaunt als sonstwo in Deutschland. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber zumindest scheinen sie zu wissen, wie man Socken in bunten Farben herstellt, die gar nicht anders können als gute Laune machen.
Ich wette darauf !
21. November 2007
Die gute Fee von Sankt Anton
Dort, vom Edeka-Einkaufswagendepot her, leuchtet mir ein Regenbogen entgegen. Er ist auf die Rückseite eines Mantels appliziert.
Die Trägerin des Mantels hantiert mit Taschen, Körben und Tüten, lädt um und sortiert. Dann dreht sie sich zu mir und seufzt: “Ich bräuchte ein Taxi … !”
Oh, sie leuchtet auch von dieser Seite. Vielfarbig blitzende Edelsteinbroschen schmücken ihr Dekolleté, ein Smaragdring ziert ihre Hand, Ohrringe glitzern um die Wette mit dezenten Ketten, die um ihren Hals liegen wie ägyptischer Königinnenschmuck. Auch ihre Augen funkeln. Sie trägt Lippenstift. Sie scheint alterslos, ja geradezu jung; nur wenn sie ihren Mund aufmacht, ist sie eine rundliche kleine Oma, die gerade vom Edeka-Markt kommt.
“Ich habe zuviel gekauft”, sagt sie, “und jetzt weiß ich nicht, wie ich das alles heimbringen soll!”
Ich mache ihr Mut, indem ich freundlich zulächle. Ich bin auf dem Weg zur Konradmühle, der Schmelzerin das Eimerchen zurückzubringen, das sie mir für den Apfelsafttransport ausgeliehen hat.
“Da kommt bestimmt jemand vorbei, den ich kenne,” sagt die alte Dame und nickt liebenswürdig zurück.
Der Schmelzerhof befindet sich nicht weit vom Edeka. Rotbackig stapft die Schmelzerin herbei, um großzügig abzuwinken. Ja, ich weiß, sie haben genug Eimer, Eimerchen, Tonnen, Tröge, Töpfe, Wannen, Körbe, Kessel und dergleichen. Aber ich habe in meinem eigenen Bestand einen passenden, laubfroschgrünen Deckel gefunden, den wollte ich ihr nicht vorenthalten.
Die Oma steht jetzt an der Bushaltestelle, umgeben von Taschen, Tüten, Blumenstrauß und Korb. Ich halte an, steige aus und frage, ob ich sie nach Hause fahren darf.
Sie strahlt. Wir laden ein, und sie nimmt Platz. Sie hat sieben Kinder. Sie kommt aus Schlesien. Sie heizt mit Holz und Kohlen. Eine Tochter ist in Amerika. Ein Schwiegersohn bringt ihr das Holz. Ihr Mann ist schon gestorben. Ein Sohn ist Maurer. Sie hat gleich nach dem Krieg geheiratet. Sie wohnt in Sankt Anton. Sie kauft immer zuviel ein.
Und dort, am Betonpfosten, soll ich halten.
Sie wohnt in einem niedrigen Nachkriegs-Reihenhäuschen. Im Garten steht eine große Volière mit allerlei Getier darin, vielfarbigen Kanarienvögeln, Papageien, Hühnern, Pfauen, Truthähnen und Weihnachtsgänsen.
‘”Wieviel kostet es denn?” fragt mich die alte Dame. “Nichts, garnichts, um Himmels willen! ” rufe ich, “es war mir ein Vergnügen!”
“Dann nehmen Sie doch bitte wenigstens eine Kleinigkeit,” sagt sie, während sie wieder umpackt und sortiert. Sie reicht mir eine Packung Diabetiker-Marzipan. “Und”, fügt sie ernsthaft hinzu “Sie sollen einmal - ein Mal! - richtig Glück haben.” Ihre Augen glitzern saphirblau.
Ich habe es geahnt - jetzt weiß ich es! Sie ist eine gute Fee. Ich bilde mir das bestimmt nicht ein. Vielleicht waren die Hühner, Gänse, Pfauen und Truthähne nicht wirklich in ihrer Volière, sondern auf Schmelzers Hühnerhof, die Paradiesvögel in einem Reiseprospekt, und auch die Juwelen nur aus Plastik, made in China.
Aber der Wunsch war echt, richtig echt. Ich glaube jetzt einfach, daß man auch öfters richtig Glück haben kann; daß man es sogar aufteilen und weitergeben kann; wer weiß, ob es sich dann nicht sogar auf geheimnisvolle, ganz und gar anstrengungslose Weise vermehrt?
30. August
Liebe Natalie,
heute nachmittag, als unsere Mägen zu knurren begannen wie eine Horde munterer Welpen … nein warte, ich fang noch mal von vorne an.
Heute nachmittag, als wir die Kühlschranktür öffneten, um zu sehen, ob es da drinnen wirklich genauso leer war wie … nein, warte, nochmal. Jetzt wird es spannend.
Also, heute nachmittag, als die Sonne golden schien … überkam uns alle ein Heißhunger auf gebratene Steinpilze mit Rahmsoße, Röstkartoffeln und grünem Salat, und zum Nachtisch stellten wir uns Schokoladeneis vor.
Das klingt fast schon so, wie es wirklich gewesen ist.
Und so schwang ich mich kurz entschlossen auf mein Fahrrad, und anstatt ins Dorf abzubiegen, fuhr ich hinaus auf die Landstraße und direkt in den Wald. Dort gibt es nämlich eine bestimmte Stelle … aber die verrate ich hier nicht!
Es hätte auch niemandem etwas genützt, denn da war kein einziger Steinpilz weit und breit. Da war nicht einmal ein einziger, halbvertrockneter Maronenröhrling. Es gab nur Moos und grünes Gras, Tannenzapfen, Krähenfedern und abgebrochene Äste, und einen verrosteten Eimer.
Vielleicht gab es wenigstens Schokoladeneis im Wald?
Ich überlegte, ob die Rahmsoße auch zu dem Schokoladeneis passen würde. Und als ich so in Gedanken vor mich hinging, sah ich plötzlich einen Pilz. Er war gelb. Er war viereckig. Und er war ganz flach.
“So ein komischer Pilz”, dachte ich. Ich beugte mich hinunter. Der Pilz war über einen alten Ast gebreitet wie ein nasses Taschentuch. Ich beugte mich noch tiefer. Er hatte viele kleine Buchstaben auf seiner Oberseite. Und diese kleinen Buchstaben winkten mir zu und sprangen dabei ganz aufgeregt hin und her.
“Hier, hier, hier!” riefen sie. “Wir sind hie-eeer! Nimm uns mii-iiit!”
Und das tat ich.
Ich vergaß das Schokoladeneis, die Rahmsoße und die Bratkartoffeln. Ich hätte sogar beinahe vergessen, noch schnell zum Laden zu fahren. Der Kühlschrank war nämlich immer noch leer. Und vor lauter Erzählen vergaß ich beinah zu essen.
Es gab es Mohrenköpfe mit Fisch und Rote-Grütze-Salat, und zum Nachtisch Pellkartoffeln … und die sahen alle ein bißchen aus wie verschrumpelte, aber weitgereiste Luftballons.
Fast genauso ist es gewesen.
Aber den komischen gelben Pilz … den haben wir nicht gegessen. Vielleicht weißt du, was wir mit ihm gemacht haben?
Viele herzliche Grüsse, und hoffentlich hast du einen Preis gewonnen!