6. August 2008

Schlagsahne

Das Zeichnen von Objekten ist in vieler Hinsicht aussichtsreicher als die mühsame Pflastermalerei, die ich vor ungefähr hundertfünfzig Jahren betrieben habe. Wenn nicht gerade im Auto, so sitze ich doch auf einem einstöckigen Klapphocker; auch das mobile Zeichenstudio, eine Konstruktion aus Pappkarton, die mit Plastikröhrchen und Gafferband hochfrisiert wurde, läßt weder Ausreden gelten noch Wünsche offen.
Zwei gutgelaunte türkische Jungs im besten Mannesalter fragen, ob sie mir mal über die Schulter schauen dürfen. Nachdem sie in Richtung Spreewaldbad weitergeschlendert sind, parkt ein Auto direkt vor meiner Nase ein. Das entgeht auch den Jungs nicht. Ich verweise den Fahrer auf die besonderen Umstände, welche seinen Wagen zu einem nur schwer zu durchdringenden optischen Hindernis machen, mit der Bitte, doch ein paar Meter weiterzufahren, welcher er amüsiert folgt.
“Das haben wir gesehen, dem hätten wir echt eine reingehauen, aber voll!” empören sich die Jungs.
Das ist gut gemeint, aber ich mache es anders. In Zukunft wird anstelle jeden Autos ein weißer Fleck zu sehen sein. Weiße Straßen glänzen dann im Licht des Hochsommers. Vor dem Fußgängerweg über die Wiener Straße staut sich bei Rot eine schneeweiße Masse. Schlagsahne, Puffwölkchen, Schaumkronen, Schnee - alles, nur keine Autos! Und über den Spreewaldplatz streichen Winde, die an nichts anderes stoßen als Bäume, Büsche, Menschen, Tauben, Hunde, Fahrräder, Poller (war da mal was?) und ein pixeliges, dickliches, ganz und gar nicht weißes Gebäude; damit sind wir zurück beim Spreewaldbad.
Das Sahnehäubchen dort drüben war früher mal ein schwarzer Toyota.

30. März 2008

Der Tabak-Kauer

Immer, wenn der Tabak-Kauer aus dem Auto steigt, wundere ich mich, wie lange er das noch machen wird. Ich bin da sicher nicht die einzige. Meistens ist er der erste oder zweite in der Schlange der Fahrer, die auf den Truck warten.

Es ist jede Nacht das gleiche.

Manchmal liegt schwerer Nebel über dem Platz. Manchmal bläst ein scharfer, frostiger Wind. Manchmal regnet es. Dann spiegelt sich das Licht der Straßenlaternen orangefarben in den Pfützen und auf dem nassen, schwarzen Teer, und die dunklen Konturen des vor uns stehenden Wagens zerfließen mit den Tropfen auf unserer Windschutzscheibe.
Die Fahrer sind das Wetter gewohnt. In kalten Nächten lassen sie die Motoren laufen. Die Lichter bleiben ausgeschaltet, bis der Truck um die Ecke biegt. Sonst ist niemand da. Es gibt nur die zwei breiten, ringsum von Garagentoren gesäumten Gassen. Hier wird die druckfrische Ausgabe des C&D an die Zeitungskuriere verteilt. Jeder hat eine andere Route zu fahren; manche davon führen weit hinaus, tief in die einsamen Ecken und Winkel von Steuben County, und dauern bis zum Morgengrauen.
Es kann passieren, daß ein Fahrer beim Warten einschläft und nicht aufwacht, wenn der Truck da ist. Dann ziehen diejenigen, die hinter ihm stehen, an ihm vorbei, und falls der letzte nicht an seine Scheibe geklopft hat, tut es der Truckfahrer. Es ist kurz nach Mitternacht; die meisten haben noch einen Hauptjob, den sie tagsüber ausüben. Ein zweiter Job wird bei der Einstellung dringend empfohlen. Die Bezahlung ist schlecht, kein Mensch kann wirklich davon leben.
Diejenigen, die noch später kommen, finden ihre gestapelten Bündel in der vom C&D angemieteten Garage. Dort steht auch der Container zur Entsorgung übriggebliebener Zeitungen und Prospekte.

Oft steigen die Fahrer aus und stehen zusammen, um zu ratschen. Der Tabak-Kauer bleibt im Auto sitzen. Nicht, daß er nichts zu sagen hätte; die anderen scharen sich mit Vorliebe um sein geöffnetes Wagenfenster. Seine Stimme ist die lebhafteste und sein Lachen das lauteste von allen. Dann scheint es, als zittere und bebe sein Wagen.
Einer der Fahrer schiebt jetzt das Garagentor hoch. Das heisere Rasseln vermischt sich mit dem Knallen von Autotüren, dem Brummen der wieder angelassenen Motoren und dem Quietschen von Bremsen, als der Truck neben der Garage zum Stehen kommt. Scheinwerfer flammen auf. Der Truckfahrer springt aus dem Führerhaus und öffnet die seitliche Schiebetür. Die Schlange setzt sich in Bewegung.
Wenn er nicht Zeitungen ausfahren würde, sagt der Tabak-Kauer, würde er nur vor dem Fernseher sitzen. Die Zeitungstour hält ihn am Leben. Er ist schon sechzig, aber seine Haare sind noch dunkel. Sie hängen unter dem Rand seiner Schiebermütze in den Nacken wie Algen aus einem Schiffswrack. Er trägt immer die gleiche Mütze. Er hat Diabetes.
Während er sich aus dem Auto wuchtet, ächzt die Karosserie und federt dann, vom Gewicht befreit, nach oben. Autos haben ihre eigene Sprache. Sie sprechen Dinge aus, für die ihre Besitzer keine Worte haben, und werden, wie in einer alten Ehe, ohne viel Worte verstanden.
Der Tabak-Kauer spuckt auf den Boden; er schwankt, eine Hand am Kotflügel abstützend, die andere zur Balance schlenkernd, um den Wagen herum zur rechten hinteren Tür, öffnet sie, packt die Zeitungsbündel, die auf der Ladefläche des Trucks bereitliegen, am Halterband, eines nach dem anderen, und wirft sie, als wären es schwerelose Bälle, ins Wageninnere; dort türmen sie sich zu einem Berg. Mit jedem Bündel sinkt das Heck tiefer.

Dann beginnt die Route.