4. September 2007
Ewiger Schrott
“Schau dir mal den Laster da drüben an”, sagt Joe. “Siehst du ihn? Weißt du, wieviele Meilen der schon auf dem Buckel hat?” Er deutet auf einen gescheckten Truck, einen unter vielen, die auf seinem Stück Land geparkt sind. Joe nennt sich König der Paletten, aber eigentlich ist er König der Schrottautos.
“Achthundertausend. Achthunderttausend!”
Er legt eine bedeutungsvolle Pause ein.
“Fast alles hab ich erneuert, den Motor zweimal, zwei- oder dreimal das Getriebe, die Lichtmaschine, Bremsen, Bremsleitungen, Auspuff alle zweihunderttausend, Tank, Achsen, Rahmen geschweißt, alles. Die Kiste läuft wie geschmiert, sag ich dir! Ich glaub, die Motorhaube ist das einzige, was noch vom Original übrig ist.”
30. August
Liebe Natalie,
heute nachmittag, als unsere Mägen zu knurren begannen wie eine Horde munterer Welpen … nein warte, ich fang noch mal von vorne an.
Heute nachmittag, als wir die Kühlschranktür öffneten, um zu sehen, ob es da drinnen wirklich genauso leer war wie … nein, warte, nochmal. Jetzt wird es spannend.
Also, heute nachmittag, als die Sonne golden schien … überkam uns alle ein Heißhunger auf gebratene Steinpilze mit Rahmsoße, Röstkartoffeln und grünem Salat, und zum Nachtisch stellten wir uns Schokoladeneis vor.
Das klingt fast schon so, wie es wirklich gewesen ist.
Und so schwang ich mich kurz entschlossen auf mein Fahrrad, und anstatt ins Dorf abzubiegen, fuhr ich hinaus auf die Landstraße und direkt in den Wald. Dort gibt es nämlich eine bestimmte Stelle … aber die verrate ich hier nicht!
Es hätte auch niemandem etwas genützt, denn da war kein einziger Steinpilz weit und breit. Da war nicht einmal ein einziger, halbvertrockneter Maronenröhrling. Es gab nur Moos und grünes Gras, Tannenzapfen, Krähenfedern und abgebrochene Äste, und einen verrosteten Eimer.
Vielleicht gab es wenigstens Schokoladeneis im Wald?
Ich überlegte, ob die Rahmsoße auch zu dem Schokoladeneis passen würde. Und als ich so in Gedanken vor mich hinging, sah ich plötzlich einen Pilz. Er war gelb. Er war viereckig. Und er war ganz flach.
“So ein komischer Pilz”, dachte ich. Ich beugte mich hinunter. Der Pilz war über einen alten Ast gebreitet wie ein nasses Taschentuch. Ich beugte mich noch tiefer. Er hatte viele kleine Buchstaben auf seiner Oberseite. Und diese kleinen Buchstaben winkten mir zu und sprangen dabei ganz aufgeregt hin und her.
“Hier, hier, hier!” riefen sie. “Wir sind hie-eeer! Nimm uns mii-iiit!”
Und das tat ich.
Ich vergaß das Schokoladeneis, die Rahmsoße und die Bratkartoffeln. Ich hätte sogar beinahe vergessen, noch schnell zum Laden zu fahren. Der Kühlschrank war nämlich immer noch leer. Und vor lauter Erzählen vergaß ich beinah zu essen.
Es gab es Mohrenköpfe mit Fisch und Rote-Grütze-Salat, und zum Nachtisch Pellkartoffeln … und die sahen alle ein bißchen aus wie verschrumpelte, aber weitgereiste Luftballons.
Fast genauso ist es gewesen.
Aber den komischen gelben Pilz … den haben wir nicht gegessen. Vielleicht weißt du, was wir mit ihm gemacht haben?
Viele herzliche Grüsse, und hoffentlich hast du einen Preis gewonnen!
2. September 2007
Crossroad at Joe’s
2. September 2007
Achtung, Zeitreisende!
Hier, an einem Ort fragiler Schönheit, erscheint die Zeit glamourös, ihr Mangel hingegen flüchtig wie Nebel am frühen Morgen.
In alten Geschichten kräht der Hahn in die Stille hinein. In neueren sind es die Pendler, die Zeitreisenden, die Lenker des Schwerverkehrs, die das Dorf aufmischen; denn mittenhindurch schiebt sich, wie die Zunge einer tosenden Brandung, der Autobahnzubringer.
Sie brettern besinnnungslos übers Land. Sie jagen, was das Zeug hält. Sie donnern heran und wischen alles zur Seite, was nicht auf den fahrenden Zug aufspringt; und jeden Tag erhalten wir aufs neue den dröhnenden Ritterschlag zur namenlosen Vorstadt. Dann erscheint die Zeit flüchtig, aber ihr Mangel glamourös.
Wahrscheinlich sind Städte so etwas wie Zeitkraftwerke. Man wirft seine Lebenszeit hinein; am anderen Ende des Strudels kommt sie mundfertig gebacken wieder zutage. Das einzige Übel ist, ihrer dann habhaft zu werden.
Natürlich kann trotzdem jeder im Rinnstein hocken, um Ameisen zu beobachten.
1. September 2007
Die Schneeglöckchen-Oma
Sie heißt nicht wirklich so. Ihren Namen bekam sie wegen einer verwegenen, weil nicht angekündigten Schneeglöckchen-Ausgrab-Aktion in unserem Garten. Die Schneeglöckchen wachsen hier verschwenderisch wie Bergbäche, die sich dunkelgrün am Hang ergießen, mit weißen, zierlich im Märzwind wippenden Schaumkronen.
Die Schneeglöckchen-Oma kündigt sich nie an; manchmal ist es ihr Zweitakter-Deutz, der klappernd ihre Tour durchs Dorf dokumentiert. Manchmal schnauft sie am Stock daher. Oder sie schiebt einen Kinderwagen, in dessen Inneres Enkel und Gartenschere in trauter Eintracht gebettet sind. Sie zeigt mir, wie man den Hang mit der Sense mäht; sie liest mir aus der Sonntagszeitung vor, sorgfältig Blatt um Blatt wendend. Es geht um Ferkelzucht und Kochrezepte.
Sie kommt mit einem erlegten Gockel in der Hand, den sie mir stumm, aber triumphierend entgegengestreckt, eine kittelbeschürzte Botin des jüngsten Gerichts. Der Gockel baumelt vor meinen Augen.
“Mein Hund war es nicht!” schwöre ich. “Wieviel hätten Sie denn dafür gewollt?”
“Fünf Mark wären das schon gewesen,” lacht sie versöhnlich. Sie legt den Hühnerich wieder auf die Anhängerkupplung und gibt Gas. Das Tuckern wandert weiter. Es vermengt sich mit dem Röhren des Verkehrs auf der Hauptstraße; es wird leise und entschwindet dann gänzlich.
Wir leben hier an einem Autobahnzubringer. Dagegen kommen selbst die Schneeglöckchen nicht an.
20. August 2007
Birnensymphonie
Ende August fallen die Birnen im Minutentakt; Tag und Nacht erklingen Autodach, Stadelschrott, Mörteleimer, Bretterstapel, Brennesselgestrüpp, Asphalt und Wiese - eben soweit der Trommelstock reicht.
Dong! Es ist Erntezeit. Ding! War nicht ein Ölwechsel fällig? Buff! Die Straße muß dringend gekehrt werden. Blong! Wann wird die Schneeglöckchen-Oma auf ihrem Zweizylinder zur alljährlich fälligen Birnen-Inspektion antuckern?
Auf der Straße bildet sich eine Kruste festgefahrener Birnen, die in der Hitze backt; im Rinnstein gärt der Matsch. Wespen, Bienen und Hornissen liegen betrunken auf dem Rücken. Schwärme von Drosseln ziehen marodierend durch die Gärten. Wenn sie einfallen, setzt der Birnbaum zum Prestissimo an; er schwirrt, kreischt, zwitschert, flötet; er lallt im schweren Rausch. Zum Auftakt des Vivace klatsche ich in die Hände.
Das Finale hingegen ist nur ein unpathethischer kleiner Seufzer, den man leicht verpennt.
Pflopp.
4. Juni 2007
Three Steps, Bowl and Bucket
3. Juni 2007
Im Apfelland
Willkommen im Apfelland - und nein, hier wird nichts verkauft.
Das Apfelland befindet sich hinter dem Stadel. Zum Stadel gelangt man, wenn man nach dem Maibaum links abbiegt und sich dann Richtung Birnbaum hält. Der ist so groß, daß schon Schulklassen davor stehengeblieben sind. “Das”, hört man dann die Lehrerin dozieren, “ist ein Birnbaum!” - Ausrufezeichen.
Im Apfelland steht ein ebenso großer Birnbaum, dazu mehrere Apfelbäume, ein Zwetschgenbaum und ein zweiter, kleinerer Birnbaum mit den süssesten, saftigsten Früchten, die wohl je ein Birnbaum zu produzieren instande sein wird.
Das Apfelland ist ein Ort vieler Geschichten. Hier, im Schatten des großen Birnbaums, hockt sperrig ein VW-Bus. Angeblich hat er in besseren Zeiten als Bienenhaus gedient. Mit sorglosen Händen arbeitet die Zeit daran, seine Überreste mit dem nicht minder löchrigen Kaninchenbau, der einst unter den Felgen gegraben wurde, zu vereinen. Das kann noch dauern.
Hier wurden Zelte aufgestellt, Lagerfeuer entzündet, Lieder zum Sternenhimmel gesungen; angeheiterte Teenager kotzten in die Holunderbüsche; es wurden Gedichte in die Tastatur gehackt; es wurden Früchte geerntet; es wurde nichts getan. Unmögliches erschien möglich, während das Mögliche selbst sich beschränkt gab; forderte es doch ein, sich den dem Apfelland zutiefst eigenen Abläufen ganz widerstandslos zu ergeben. Über alledem wuchs unverdrossen das Gras, wie auch das Unkraut der Gedanken.