8. Februar 2008

Hinterland Blues

Rasenmäher, Ladegeräte, Generatoren, Kapuzenshirts, kuschelige Bademäntel, Arbeitsstiefel, Wohnzimmerschränke, Drehstühle, Himbeeren aus Mexiko, kalifornische Blaubeeren, hawaiianischer Zaubertrank, Zucker in Säcken und Salsa in Containern, Computer, Bildschirme, Plastikgabeln im Tausender-Karton, Torten in Regenbogenfarben, Baseball-Tore auf soliden Stahlständern, Granatapfelsaft - es gibt fast alles bei Sam’s Club, meistens jedoch nur jeweils eine Sorte. Es gibt zum Beispiel nur eine Sorte Klavier, eine Sorte Digital-Schlagzeug, eine Sorte Gitarre, und das Schaustück hat eine angeschlagene Ecke. Es gibt nur eine Sorte Holzfällerjeep für Waldbesitzer. Tut-tut! Der Lagerist fährt eine Elektrolok durch die Reihen, auf deren Anhänger sich die Paletten türmen.
Die Mitgliedschaft im Club kostet etwa fünfzig Dollar im Jahr. Wenn das nichts ist!
An jeder Ecke steht ungefähr eine fidele Seniorin, welche mit geheimnisvollem Lächeln pfiffig kreierte Häppchen anbietet. Die Einkaufswägen sind kobaltblau und güterwagengroß. Hinten ragen die Tiefkühlvitrinen in die Höhe wie die Mauern einer Reihenhauszeile. Darüber knallt in zinnoberroten Riesenlettern: “Meat”. Fleisch!
Wer selbst das nicht lesen kann, ist zum Sehtest auf der gegenüberliegenden Seite eingeladen.

3. Februar 2008

Electric Lines

8. Dezember 2007

Nußecken-Romanze

Wer mehr über die Gelungenheit einer Liason von Bäckerei und Poststelle wissen will, braucht nur zum Huber zu gehen.
Hier gibt es außer Backwaren zum Beispiel auch Altarkerzen, Bindfaden, Melkfett, Streichhölzer, Pflaster, Schulhefte, Kinderkleidung, Plastikspielzeug, Lebensmittel und Produkte der Regenbogenpresse. Auf dem Tisch neben der Tür stehen drei gefällig arrangierte Lebkuchenpackungen. Auch in den Regalen ist alles nur lose verteilt - als ob sich die Waren nicht mal ansatzweise Mühe gäben, die Rostflecken verbergen. Oder ist es Mäusedreck? Oder verschimmelte Sabber-Reste vom Schäferhund? Unter der kahlen, neonbeleuchteten Decke hängt schwer und penetrant der Geruch von Backduftstoffen. Der Postschalter befindet sich gleich bei der Eingangstür.
Bevor die Huberin die Szene betritt, späht sie mißtrauisch aus dem Nebenraum. Kundschaft? Säuerlich nimmt sie meine zwei Briefe entgegen. Zunächst einmal wird gewogen.
Von manchen Menschen heißt es, jeder ihrer Gedanken, sofern einmal gefaßt, werde im gleichen Moment ausgesprochen. Was aber, wenn sie schweigen?
“Da hammer 55, des is normal,” sagt sie. “Der andere kostet normal 1,45, ja, des is normal.” Sie studiert Adresse und Absender. Stumm bewegen sich ihre Lippen. Dann pappt sie mit wichtiger Miene die Marken auf.
In den Vitrinen neben dem Postschalter lagert eine Geröllhalde aufgeblähter Semmeln. Daneben stapeln sich die Nußecken. Sie sind heute überwältigend groß. Man könnte Städte damit bauen! Zumindest ein Schloß … eine Festung aus dreieckigen Backsteinen, mit Türmen, Zinnen und Sälen, ausladend wie Montagehallen.
Das Regime auf Schloß Nußeck führt die schwer überkandidelte Prinzessin Rumaroma. Sie wird umworben von den heiratslustigen Gesellen Prinz Palmin und Prinz Glasur, fettig der eine, zuckerig der andere; wichtigtuerisch sind sie alle beide.
Wem wird die Prinzessin heute ihre Gunst gewähren? Welchen der beiden wird sie zuerst küssen?
Auch die Huberin schürzt jetzt ihre Lippen. Sie hebt das Kinn. Durch ihre Lesebrille hindurch fixiert sie die Marke. Dann läßt sie den Stempel herabsausen. Es gibt einen leichten Knall, gefolgt von einem zweiten.
So geht es auch.
Jetzt kann die Post abgehen. Keine weiteren Fragen mehr!

5. Dezember 2007

Weihnachten, wir kommen

Manche Geschichten beginnen wie eine planlose Fahrt ins Nichts-Genaues-weiß-man-nicht. Exakt. Also bloß nicht nachdenken! Nicht nachdenken … irgendwas wird dann schon passieren. Ich weiß nur noch nicht wann, wo und warum.

Die Ihle-Verkäuferin zum Beispiel legt die heißen, frisch auf dem Ofen genommenen Semmeln zum Auskühlen auf einen Gitterrost. Die Semmeln duften herrlich - zwar nicht nach Lebkuchen, aber nach Backstube und Behaglichkeit. Draußen trotzt die eingezäunte Herde der Weihnachtsbäume dem eisigen Ostwind, mit bunten Plastik-Preisschildchen an den Wipfeln. Der Baumhüter schlurft fröstelnd hin und her. Der Winter ist längst da, aber wo ist Weihnachten?

Die Verkäuferin ist jetzt fertig und dreht sich zu mir um. Wenn sie Schicht hat, ist das oberste Regal immer leer - nicht, weil ihr der Nachschub ausgegangen ist, sondern weil sie zu kurz ist. Um mühelos hinreichen zu können, füllt sie diejenigen Brote, die normalerweise ganz oben liegen, in die unteren Regale um. Sie ist um ungefähr zwei bis fünf Kopf kleiner als ich. Sie hat lustige braune Augen, rote Backen, struppiges kurzes Haar und eine Zwergenstupsnase.

“Es ist so schön warm bei Ihnen”, sage ich. Sie lacht. “Heute nicht, heute habe ich sogar Strümpfe an”, sagt sie. “Normal bin ich immer barfuß.” Dabei schiebt sie zwei Seelen in eine Tüte.

Sie ist bestimmt eine echte Zwergin. Die haben es immer ganz gemütlich, tief in ihrer Wurzelhöhle mitten im Wald. Da werden zusammen mit den Rotkehlchen, Eichhörnchen und Rehen den ganzen Abend lang Weihnachtslieder gesungen. Es gibt Zwergenlebkuchen mit Glühwein, und Fuchs und Hase schauen einträchtig zu. Die Zwerge sind, habe ich gehört, Weltmeister im Koordinieren, und äußerst patent, wenn es um die unauffällige Umsetzung von Event-Projekten geht.

So trug es sich also zu, daß der Wald sich auf Reisen begab. Die Fichten kleideten sich in flotte Netzmäntel. Sie steckten sich grüne, gelbe, blaue und rote Wimpel ins Haar und sprangen auf die Ladeflächen vollgetankter Sattelzugmaschinen, Agentinnen der Friedlichkeit. Die Zwerge verloren keine Zeit. Damit Weihnachten rechtzeitig beim Edeka ankommen würde, wurde der Himmel mit einem verdrossenen, pappnassen Vorhang zugehängt, die Backstube aber angeheizt und in emsigem Betrieb gehalten.

Wenn es dann soweit ist, sagen Fuchs und Hase gute Nacht. Alles nach Plan!

Na, dann frohe Weihnachten.

22. November 2007

Socken am Rhein

Liebe Nadine,

diese Socken hat Frau Merquel gestrickt. Sie haben 11 Euro gekostet, aber ich habe ihr 15 gegeben. “Das gibt neue Wolle!” sagt sie beim Abschied, zwinkert und wedelt ein bißchen mit den Scheinen. Wenn man von jeder Farbe zwei Knäuel hat, fügt sie hinzu, kann man zusammengehörende Socken immer gleichzeitig stricken. So werden sie am besten.

Frau Merquel hat sowohl eine kleine Pension wie auch ein Faible für Handarbeiten. Letztes Jahr, sagt sie, habe sie über hundert Deckchen gehäkelt, und alle seien weggegangen. Sie lebt mit ihrer Katze im ersten Stock. Sie trägt eine Brille mit Goldgestell und einen schmalen, goldenen Ehering. Alles an ihr ist irgendwie golden. Sie ist Eisenbahnerwitwe und kann nicht mehr gut laufen. Sie spricht mit leiser Stimme. Wenn sie nichts anderes zu tun hat, strickt sie.

Unten, im Erdgeschoß, schlafen die Gäste. Frau Mergel erzählt mir, daß sich in ihrer Garage über vierzig leere Getränkekisten stapeln. Bei Hochwasser werden fünf Leute benötigt - vier heben das Bettgestell hoch, einer schiebt Kisten darunter.

Das Hochwasser kommt vom Rhein, der gleich neben dem Haus vorbeifließt. Dazwischen befindet sich nur noch eine schmale Straße und ein Grünstreifen.

Heute ahnt man nur wenig vom Hochwasser. Bei der ein paar hundert Meter entfernten Autofähre steht ein Pappschild: Niedrigwasser - keine Wohnmobile. Aber das hat jetzt mit den Socken nicht mehr viel zu tun … auch die Rhein-Schlepper nicht, die träge vorbeituckern; auch nicht die Taucherklasse, die eine sonntägliche Übstunde abhält; auch nicht die Burgen, Türme, Schlösser und Ruinen, die nach jeder Kurve in einer neuen Variante erscheinen; auch nicht die vierschrötige Metall-Lorelei, die trotzig mitten im Fluß hockt, am Ende einer begehbaren Aufschüttung aus Beton, Kies und Felsbrocken.

Hinter uns spannt sich ein leuchtender Regenbogen über das Rheintal, vor uns liegt nichts als nasses Grau. Am Rhein, sagt man, seien die Menschen besser gelaunt als sonstwo in Deutschland. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber zumindest scheinen sie zu wissen, wie man Socken in bunten Farben herstellt, die gar nicht anders können als gute Laune machen.

Ich wette darauf !

21. November 2007

Die gute Fee von Sankt Anton

Dort, vom Edeka-Einkaufswagendepot her, leuchtet mir ein Regenbogen entgegen. Er ist auf die Rückseite eines Mantels appliziert.
Die Trägerin des Mantels hantiert mit Taschen, Körben und Tüten, lädt um und sortiert. Dann dreht sie sich zu mir und seufzt: “Ich bräuchte ein Taxi … !”
Oh, sie leuchtet auch von dieser Seite. Vielfarbig blitzende Edelsteinbroschen schmücken ihr Dekolleté, ein Smaragdring ziert ihre Hand, Ohrringe glitzern um die Wette mit dezenten Ketten, die um ihren Hals liegen wie ägyptischer Königinnenschmuck. Auch ihre Augen funkeln. Sie trägt Lippenstift. Sie scheint alterslos, ja geradezu jung; nur wenn sie ihren Mund aufmacht, ist sie eine rundliche kleine Oma, die gerade vom Edeka-Markt kommt.
“Ich habe zuviel gekauft”, sagt sie, “und jetzt weiß ich nicht, wie ich das alles heimbringen soll!”
Ich mache ihr Mut, indem ich freundlich zulächle. Ich bin auf dem Weg zur Konradmühle, der Schmelzerin das Eimerchen zurückzubringen, das sie mir für den Apfelsafttransport ausgeliehen hat.
“Da kommt bestimmt jemand vorbei, den ich kenne,” sagt die alte Dame und nickt liebenswürdig zurück.
Der Schmelzerhof befindet sich nicht weit vom Edeka. Rotbackig stapft die Schmelzerin herbei, um großzügig abzuwinken. Ja, ich weiß, sie haben genug Eimer, Eimerchen, Tonnen, Tröge, Töpfe, Wannen, Körbe, Kessel und dergleichen. Aber ich habe in meinem eigenen Bestand einen passenden, laubfroschgrünen Deckel gefunden, den wollte ich ihr nicht vorenthalten.
Die Oma steht jetzt an der Bushaltestelle, umgeben von Taschen, Tüten, Blumenstrauß und Korb. Ich halte an, steige aus und frage, ob ich sie nach Hause fahren darf.
Sie strahlt. Wir laden ein, und sie nimmt Platz. Sie hat sieben Kinder. Sie kommt aus Schlesien. Sie heizt mit Holz und Kohlen. Eine Tochter ist in Amerika. Ein Schwiegersohn bringt ihr das Holz. Ihr Mann ist schon gestorben. Ein Sohn ist Maurer. Sie hat gleich nach dem Krieg geheiratet. Sie wohnt in Sankt Anton. Sie kauft immer zuviel ein.
Und dort, am Betonpfosten, soll ich halten.
Sie wohnt in einem niedrigen Nachkriegs-Reihenhäuschen. Im Garten steht eine große Volière mit allerlei Getier darin, vielfarbigen Kanarienvögeln, Papageien, Hühnern, Pfauen, Truthähnen und Weihnachtsgänsen.
‘”Wieviel kostet es denn?” fragt mich die alte Dame. “Nichts, garnichts, um Himmels willen! ” rufe ich, “es war mir ein Vergnügen!”
“Dann nehmen Sie doch bitte wenigstens eine Kleinigkeit,” sagt sie, während sie wieder umpackt und sortiert. Sie reicht mir eine Packung Diabetiker-Marzipan. “Und”, fügt sie ernsthaft hinzu “Sie sollen einmal - ein Mal! - richtig Glück haben.” Ihre Augen glitzern saphirblau.
Ich habe es geahnt - jetzt weiß ich es! Sie ist eine gute Fee. Ich bilde mir das bestimmt nicht ein. Vielleicht waren die Hühner, Gänse, Pfauen und Truthähne nicht wirklich in ihrer Volière, sondern auf Schmelzers Hühnerhof, die Paradiesvögel in einem Reiseprospekt, und auch die Juwelen nur aus Plastik, made in China.
Aber der Wunsch war echt, richtig echt. Ich glaube jetzt einfach, daß man auch öfters richtig Glück haben kann; daß man es sogar aufteilen und weitergeben kann; wer weiß, ob es sich dann nicht sogar auf geheimnisvolle, ganz und gar anstrengungslose Weise vermehrt?

7. November 2007

Jäger im Schnee

Der Walmart in Geneseo ist wild dekoriert mit ausgestopften Bären und Hirschen. Es ist Jagdsaison. In der Waffenabteilung wimmelt es von bärtigen, sich gewichtig gebenden älteren Herren. Die Kleiderständer quellen über von Camouflage-Kleidung, von Mützen, Jacken, Hosen, Handschuhen, Overalls, in den Regalen stapeln sich faltbare Jägerstände, Rucksäcke, Sitzkissen, alles im militärischen Farn-Unterholz-Design. Die Patronen im Sonderangebot sind fast ausverkauft.

Am frühen Vormittag hören wir Schritte vor dem Trailer und kurz darauf ein kräftiges Klopfen an der Tür. Es ist Kevin, der Jäger. Er ist der einzige, der im Hollow jagen darf, und das auch nur mit Pfeil und Bogen. Durch die geschlossene Tür hindurch berichtet er von Bärenspuren, die bis vor unseren Trailer führen. Das Bett steht direkt an der Tür, und so bleiben wir während der Unterhaltung einfach liegen. Normalerweise würde Kevin nie auch nur in Sichtweite des Trailers kommen. Aber es hatte geschneit in der Nacht, und die dünne weiße Schicht machte den Wald zu einem aufgeschlagenen Buch. Offensichtlich war er den Spuren gefolgt und wollte uns warnen.
Wir bedanken uns für die Auskunft und gähnen. Es ist sowieso viel zu früh zum Aufstehen.
Durch das große Fenster, direkt vom Bett aus, sehen wir den Jäger durch den Wald davonstapfen. Mit dem High-Tech-Bogen über der Schulter sieht er aus wie ein neuzeitlicher Soldat. Auch er ist ganz in Camouflage gekleidet. Nur die Pfeilschäfte leuchten signalrot. Er verschwindet wieder, wie kurz darauf auch der Schnee.

Heute nacht wache ich von einem lauten Knacken im Wald auf.
Knirsch-Krach! Krrrrach!
Ein Flutlicht schafft Klarheit. Dort hinten, im Strahl des Scheinwerfers, wo der Schatten schwärzer ist als die Nacht, sitzen zwei Bären und knacken genüßlich das neue, frisch mit Sonnenblumensamen gefüllte Walmart-Plastik-Vogelfutterhäuschen - eine Bärenmutter und ihr Junges, schwärzer noch als selbst der Schatten.
Immerhin haben sie das Häuschen völlig geräuschlos vom Baum gerupft. Es war mit starkem Draht am Baum befestigt, und der steht nicht weit vom Fenster.
Ich klatsche in die Hände, und unwillig tummeln sich die schwarzen Gesellen.
Na denn! Wer ein Vogelhäuschenknackermeister werden will, kann nicht früh genug anfangen.